Charaktertest für die Audi-Lenkung
- Fahreigenschaften-Entwickler Carsten Jablonowski im Interview
- Virtuelle Basisabstimmung der Audi-typischen Lenkung
- Verschiedene Lenksysteme bauen aufeinander auf
Ob Serpentinen in den Alpen, auf der vielbefahrenen Autobahn oder über den schlaglochreichen Weg zum Supermarkt in der Stadt – eine gute Lenkung muss das ganze Spektrum von Fahrsituationen abdecken. Carsten Jablonowski, Teamleiter Entwicklung Fahreigenschaften, erläutert im Interview den komplexen Abstimmungsprozess von Fahrwerk und Lenkung, der das Lenkgefühl eines Audi erst möglich macht.
Herr Jablonowski, was macht für Sie das Audi-typische Lenkgefühl aus?
Wenn wir in einem Auto sitzen, ist das individuelle Lenkgefühl abhängig von vielen Faktoren. Unter anderem spielen Gesamtkonzeption, Fahrzeuggewicht und Gewichtsverteilung eine Rolle, aber auch die einzelnen Fahrwerkskomponenten, die Reifen und das eingesetzte Lenkungssystem. Wenn ich mich jetzt in unterschiedliche Audi-Modelle setze, stellt sich nach kurzer Zeit dieses vertraute Lenkgefühl bei mir ein: Das Auto lässt sich mühelos mit geringem Lenkaufwand leichtgängig und exakt steuern. Egal, ob ich einparke, Kehren fahre oder entspannt durch die Stadt cruise.
Kurven lege ich dank eines höheren Handmoments exakt und agil zurück. Vor allem in schnellen Wechselkurven ändern unsere Modelle die Richtung mit einer hohen Präzision. Andererseits läuft ein Audi bei schnellem Autobahntempo souverän geradeaus und keineswegs nervös. Dabei spüre ich zu jeder Zeit, wie sich das Auto zur Straße verhält. Das Lenkrad gibt mir direktes Feedback hinsichtlich Balance, Grip-Niveau und Fahrbahnunebenheiten wie Kanten und Spurrinnen. In der Summe ist das alles wichtig für ein sicheres und angenehmes Fahrgefühl.
Der Entwicklungsprozess eines Fahrzeugs dauert bis zu fünf Jahre. Wie stellen Sie sicher, dass in dieser Zeit das Lenkgefühl ausreichend Berücksichtigung findet?
Zunächst legen wir die Fahrdynamikeigenschaften für die entsprechende Baureihe fest. Für die jeweiligen Modelle gibt es einen festgelegten Zielbereich für den Lenkwinkelbedarf. Daraus ergibt sich unter anderem die notwendige Lenkübersetzung beziehungsweise der Übersetzungsverlauf an der Vorderachslenkung. Als Nächstes wird das Lenksystem für die Vorderachse entsprechend ausgelegt. Mit steigenden Anforderungen an Fahrdynamik und Handling bei größeren Fahrzeugen wie Q7 und Q8 setzen wir zusätzlich eine Hinterachslenkung ein.
Wie erfolgt die Abstimmung einer Lenkung – am Computer oder real?
Sowohl als auch. Die sogenannte Basisabstimmung erfolgt weitestgehend virtuell. Wir haben standardisierte Fahr- und Lenkmanöver herausgearbeitet, die wir über den gesamten Geschwindigkeitsbereich eines Fahrzeugs simulieren. Hauptsächlich konzentrieren wir uns dabei auf den Fahrbereich, in dem der Normalkunde unterwegs ist, den sogenannten linearen Bereich mit niedrigen Querkräften und üblichen Lenkfrequenzen. Ebenso gehen wir bis an die Belastungsgrenzen, um das Fahrverhalten bei hohen Querbeschleunigungen und schnellen Lenkfrequenzen zu beurteilen. Die Basisabstimmung funktioniert mit diesem Ansatz ausgesprochen gut, insbesondere bei komplexen Systemen wie der Dynamik-Allradlenkung. Aber sie liefert natürlich kein abnahmefähiges Ergebnis.
Wie geht es mit der Feinabstimmung weiter?
Das Feintuning und die finale Abstimmung aller Fahrwerksbauteile aufeinander lassen sich noch nicht in Simulationen realisieren. Das Lenkgefühl können wir nur fachmännisch beurteilen, wenn wir es im wahrsten Sinne des Wortes erfahren. Hierfür sind Erprobungsfahrten erforderlich, die zeigen, ob die gewählten Maßnahmen in der Basisabstimmung in die richtige Richtung zielen. Dafür testen wir zunächst auf unterschiedlichen Prüfgeländen. Bei der Abstimmung werden sowohl objektive als auch subjektive Kriterien berücksichtigt: Wie ist das Eigenlenkverhalten des Autos? Gibt die Lenkung die Befehle des Fahrers direkt oder indirekt an die Räder weiter? Vermittelt sie ein gutes Gefühl zur Fahrbahn? Ist sie leicht- oder schwergängig?
Und was machen Sie, wenn Sie feststellen, dass die Abstimmung nicht passt?
Zeigt eine Testfahrt, dass etwas geändert werden muss oder wir eine andere Einstellung ausprobieren sollten, nehmen wir Modifikationen vor, und es geht unverzüglich auf die nächste Tour. Wir justieren Parameter in den Steuergeräten, wobei unterschiedliche Reifen und Antriebsvarianten berücksichtigt werden. Das Feintuning und die Abstimmung erfolgen zu einem großen Teil auf öffentlichen Straßen. Denn das ist das Terrain, auf dem sich die Autos später tagtäglich bewegen. Mit jeder Abstimmungsfahrt verfeinern sich die Kriterien und das Gesamtsystem, bis es schließlich den Serienstand erlangt.
Wie gehen Sie in dem Kontext beim Thema Originalbereifung konkret vor?
Erst die Reifen bringen den Vorsprung durch Technik auf die Straße. Mit ihnen lässt sich das Fahr- und Lenkverhalten eines Fahrzeugs signifikant verändern. Das perfekte Zusammenspiel zwischen Fahrwerk und Lenksystem ist daher von entscheidender Tragweite. Bis ein neuer Audi und ein Reifentyp optimal zueinander passen, vergehen einige Jahre. Gemeinsam mit führenden Herstellern entwickeln wir speziell für jedes Audi-Modell einen passenden Pneu aus hochmodernen Materialien. Dabei bringen wir unser Lastenheft mit dem Reifen-Sortiment unserer Partnerunternehmen in Einklang. Die Liste der Kriterien, in denen ein Audi-Originalreifen in umfangreichen Tests überzeugen muss, ist lang.
Welche Kriterien sind das?
Der Aufbau von Sommer- und Winterreifen wird in mehreren Stufen so lange getrimmt, bis wir zufrieden sind hinsichtlich Rundlaufqualität, Rollwiderstand, Fahrdynamik und Handling, Bremseigenschaften, Schnelllauf, Aquaplaning, Wintererprobung, Gleichförmigkeit. Dabei wird fortlaufend die Konstruktion des Reifenunterbaus, die Karkasse und die Gummimischung für die Lauffläche auf das Modell abgestimmt. Bei der Entwicklung legen wir die Messlatte oberhalb der gesetzlichen Vorschriften. Erst nach rund 50 Tests darf der Reifen an einen Audi montiert werden. Insgesamt kommen wir bei unseren Dauerlauftests auf 40.000 Kilometer.
Audi hat derzeit verschiedene Lenksysteme im Portfolio. Was sind die Vorteile?
Die Basis für alle unsere Lenkungssysteme hat die elektromechanische Servolenkung gelegt. Dank ihr ist es möglich, die Lenkunterstützung je nach Geschwindigkeit zu variieren. Darauf aufbauend wurde die Progressivlenkung entwickelt. Diese operiert – wie der Name es schon sagt – mit einem progressiven Übersetzungsverhältnis. Das bedeutet, dass die Lenkung in Abhängigkeit vom Lenkeinschlag auf verschiedene Weise übersetzt ist. Beim Rangieren und Parken reduziert das spürbar die Lenkarbeit. Auf kurvenreichen Landstraßen und beim Abbiegen indes wird man aufgrund der direkteren Auslegung ein Plus an Dynamik feststellen. Die Steigerung kam dann mit Einführung der Dynamiklenkung. Sie ermöglicht es, die Lenkübersetzung unabhängig vom Lenkeinschlag zu verändern. Das löste viele technische Kompromisse auf. Zudem kann der Fahrer die Lenkübersetzung in Audi drive select seinen Bedürfnissen entsprechend anpassen.
Dann gibt es noch die Allradlenkung und die Dynamik-Allradlenkung – Ihre aktuelle Top-Technologie unter den Lenkungssystemen. Was bringt die Integration der Hinterachslenkung für Vorteile?
Mit dem Einsatz der Hinterachslenkung, bei Audi Allradlenkung genannt, verbessern wir deutlich das Handling des Fahrzeugs. Jede und jeder von uns ist schon mal in einem engen Parkhaus beim Fahren aufs nächste Deck mit dem kurveninneren Hinterrad über den Randstein gefahren. Dies geschieht dank der Allradlenkung nicht mehr so leicht. Bei geringer Geschwindigkeit wird an der Hinterachse entgegen des Lenkradeinschlags gelenkt. Die vom Fahrzeug genutzte Spur wird dadurch kleiner. Beim Rangieren reduziert das den Wendekreis merklich. Ist man dagegen schneller unterwegs, wird die Lenkrichtung umgekehrt. Das gleichsinnige Einschlagen der Räder an beiden Achsen sorgt für deutlich mehr Fahrstabilität, insbesondere beim Überholen. Die Dynamik-Allradlenkung kombiniert letztendlich die Vorteile von Dynamik- und Allradlenkung. So gesehen profitieren wir stets von den Vorgängertechnologien.