Vom Polarkreis bis zum Nürburgring: quattro-Entwickler im Gespräch
Zurück zur ÜbersichtSeit vielen Jahren erprobt Audi seine quattro-Systeme unter extremen Bedingungen – mit hohem Aufwand, Feingespür und großer Akribie. Zum Gespräch darüber kamen Experten aus verschiedenen Entwicklungsbereichen zusammen. Dieter Weidemann (Antrieb) und William Wijts (Fahrwerk) erklären, wie die Testarbeit mit dem rein mechanischen Mittendifferenzial auf Schnee und Eis abläuft. Roland Waschkau von der Audi Sport GmbH ist der Fachmann für das Sportdifferenzial. Stefan Lehner (Fahrwerk) wiederum hat eine ganz andere Aufgabe – er entwickelt und erprobt Software für die elektronisch geregelten quattro-Systeme. Und sein Kollege Marc Baur (Fahrwerk) ist auf das elektrische Torque Vectoring spezialisiert.
Herr Wijts, Herr Weidemann, Sie sind in Ihrer Erprobungsarbeit in ganz Europa unterwegs – auch im Winter auf Schnee und Eis. Warum ist gerade das für Sie so wichtig?
Weidemann: Wir machen die Abstimmung auf Eis und Schnee, weil dort für uns die feinen Unterschiede zwischen den verschiedenen quattro-Varianten sehr gut auflösbar sind. Strecken mit niedrigem Reibwert sind für uns die entscheidende Herausforderung. Auch wenn wir uns im fahrdynamischen Grenzbereich bewegen – ein Schwerpunkt ist die Beherrschbarkeit des Autos für ganz normale Fahrer_innen, also für Leute, die im Alltag auf einer rutschigen Straße fahren und dort ungewollt in den Grenzbereich geraten können. Für sie entwickeln und erproben wir, vor allem auf Schnee, einen quattro-Antrieb, der ihnen ein sicheres und leicht beherrschbares Handling garantiert.
Wie hat man sich diese Erprobungsfahrten vorzustellen?
Wijts: Wir nennen das Gelände „Kalt 1“, es liegt nahe am Polarkreis. Für die Abstimmung der Mittendifferenziale reisen wir meist mit vier oder sechs Autos nach Schweden, unterstützt durch einen oder zwei Mechaniker_innen. Wir fahren in der Regel im Februar, wenn alles tief verschneit ist, dann haben wir die stabilsten Wetterbedingungen. Auf dem privaten Prüfgelände gibt es unterschiedlichste Strecken, zum Teil mit nach außen hängenden Kurven und anderen Finessen. Wir haben mehrere Handlingkurse auf dem See und auf dem Land, die gezielt angelegt wurden, um unterschiedliche Kurvenprofile und Kurvengeschwindigkeiten darzustellen. Für die Traktionsabstimmung steht sogar eine Serpentinenstraße bereit.
Weidemann: Am besten können wir bei Temperaturen unter fünf Grad Celsius arbeiten. Da sind die Bedingungen einigermaßen konstant und die verschiedenen Konfigurationen gut vergleichbar. Man braucht aber trotzdem immer ein Referenzfahrzeug, um richtig einordnen zu können, wie sich die Verhältnisse verändern. Am allerbesten für uns sind 25 Grad minus mit richtig hartem Schnee, der guten Grip bietet, aber das bleibt nicht den ganzen Tag so. Die zweite Testrunde verläuft schon anders als die erste, der Schnee wird plattgedrückt und das Eis poliert, und dadurch verschlechtern sich die Verhältnisse nach und nach immer weiter. Aber wir kennen diesen Effekt und können ihn entsprechend einschätzen.
Wie riskant kann die Arbeit sein?
Wijts: Auf dem See kann nichts passieren, da fliegt man höchstens mal ab und muss aus dem Schnee geborgen werden. Beim Land-Handling auf dem privaten Testgelände kennen wir die Strecken mittlerweise sehr gut, so dass wir die Feinheiten der Abstimmung sauber analysieren können. Nichtsdestrotz setzt die Physik Grenzen, die wir sehr ernst nehmen. Und in diesen Grenzen fahren wir so schnell, wie es für unsere Arbeit nötig ist – in manchen Abschnitten mit 30 km/h, in anderen mit 160 km/h.
Weidemann: Wenn wir Mittendifferenziale abstimmen, schalten wir möglichst alle Fahrwerksregelsysteme inklusive der ESC aus, um den reinen quattro-Antrieb beurteilen zu können. Wir wollen ja auch ohne die Regelsysteme ein harmonisches Grund-Fahrverhalten erreichen, bei dem das Auto schon genau das tut, was man als Fahrer_in möchte. Mit dieser Strategie haben wir übrigens mal einen hochrangigen Kollegen aus der Technischen Entwicklung überrascht, der von einem direkten Wettbewerber zu Audi kaum und zum ersten Mal mit uns in Schweden war. Er hat sich damals in einen A6 mit quattro-Antrieb gesetzt und uns danach begeistert erzählt, wie rund und harmonisch die Regelsysteme arbeiten würden. Dabei waren sie alle deaktiviert.
Sie sind ja routinierte Profis im Winter-Testing. Wie lange machen Sie das schon?
Wijts: Zum ersten Mal war ich 1998 auf Wintererprobung. Damals waren die Anforderungen an das Torsen-Differenzial noch viel niedriger als heute – es musste in erster Linie robust sein und sollte in engen Kurven und beim Rangieren möglichst wenig Verspannungen erzeugen. Dann kam der Dieter dazu, der hatte schon ein starkes Interesse daran, wie sich die Autos fuhren. Von dem Moment an haben sich Fahrwerks- und Antriebsentwicklung gegenseitig vorangepusht.
Weidemann: Unsere Abteilung hat die Verantwortung für den quattro-Antrieb übernommen und die Entwicklung neu aufgestellt. Zusammen mit den Kolleg_innen aus dem Fahrwerksbereich haben wir nach und nach eine gemeinsame Philosphie erarbeitet. Wir haben ganz unterschiedliche Grundverteilungen und Sperrwerte für Vorder- und Hinterachse gewählt und zunächst auf dem Prüfstand auf ihre Funktion untersucht. Die Differenziale, die uns am vielversprechendsten erschienen, haben wir dann mit nach Schweden genommen. Am intensivsten war die Entwicklung Ende der 2000er Jahre, als wir grundlegende Konzeptuntersuchungen mit ganz unterschiedlichen Technologien für das selbstsperrende Mittendifferenzial gemacht haben. Da sind wir schon mal mit 30 verschiedenen Bauteilen oder noch mehr losgefahren.
Wie lange hat die Wintererprobung damals gedauert?
Wijts: Vor zehn Jahren waren das etwa zwei Wochen, ohne freie Wochenenden. Und alle Tage sind gleich verlaufen: Fahren, von den Mechaniker_innen umbauen lassen, wieder fahren… Damals haben wir ein Konzept entwickelt, dem wir noch heute folgen. Wir definieren im Vorfeld unterschiedliche Modelle, mit denen wir die Erprobungen fahren wollen, beispielsweise einen S4* und einen SQ7*. Das ist deshalb wichtig, weil die Differenziale ja in ganz unterschiedlichen Fahrzeugklassen eingesetzt werden.
Weidemann: Von jedem Modell nehmen wir dann zwei identische Exemplare mit, die beide den Serienstand des selbstsperrenden Mittendifferenzials drin haben. Das Auto, das sich einen Tick besser verhält, wird unser erstes Referenzauto. In das andere bauen wir eines der Prototypen-Differenziale ein und bewerten, ob es ein besseres Fahrverhalten bringt. Wenn das eintrifft, wird dieses Auto die neue Referenz, und das erste Auto bekommt die nächste Entwicklungsvariante. Und so optimieren wir das Fahrverhalten iterativ immer weiter, bis wir alle Varianten abgearbeitet haben.
Sind Sie sich da in der Bewertung immer einig?
Wijts: Dieter und ich diskutieren sehr viel über das Verhalten des Autos beim Lastwechsel, über zu viel oder zu wenig Untersteuern. Am Ende sind wir uns dann immer einig. Das ist ähnlich wie bei einem alten Ehepaar (lacht).
Welche Eigenschaften muss das ideale selbstsperrende Mittendifferenzial haben?
Wijts: Ein Audi soll auf Schnee und Eis von jedem Kunden schnell und sicher zu fahren sein. Das bedeutet, dass wir sehr viel Wert darauf legen, dass das Auto möglichst in jeder Situation gleich reagiert, dass es spontan einlenkt und neutral um die Kurven fährt. Und wenn dann doch mal das Heck ausbricht, zum Beispiel über einen Gasstoß, darf dies nicht zu hektisch geschehen, damit das Fahrzeug gut beherrschbar bleibt. Dazu soll es natürlich auch immer eine sehr gute Traktion haben.
Weidemann: Seit 1980 hat das mechanische quattro-System von Audi natürlich immense Fortschritte gemacht. Die heutige Grundverteilung von 40 Prozent an die Vorderachse und 60 Prozent an die Hinterachse, kombiniert mit den passenden Sperrwerten, bedeutet eine sehr gute Schnittmenge aus hohem Grip und guter Fahrdynamik. Die große Stärke ist und bleibt jedoch die Traktion auf Untergründen mit niedrigem Reibwert.
Waschkau: Für Kund_innen, die hohe Fahrdynamik auf trockener Strecke erleben wollen, haben wir ja das quattro sport, unser Sportdifferenzial an der Hinterachse. Es macht das Auto agil, indem es die Antriebsmomente je nach Bedarf aktiv zwischen den Hinterrädern umverteilt. Bei der Abstimmung spielen auch Rennstrecken und hohe Reibwerte eine wichtige Rolle, vor allem bei den RS-Modellen. Im Gegensatz zum klassischen Mittendifferenzial ist das Sportdifferenzial ein elektronisch geregeltes System. Es besteht aus zwei Kupplungen und einem Überlagerungsgetriebe, die Software ist für jedes Fahrzeug speziell angepasst und abgestimmt.
Ein weiteres geregeltes System ist der quattro mit ultra-Technologie. Was war der Anlass, ihn zu entwickeln?
Weidemann: Wir haben bei einer Befragung vor etwa zehn Jahren herausgefunden, dass viele Audi Kund_innen, die keinen quattro fuhren, den Mehrverbrauch deutlich zu hoch eingeschätzt, zugleich aber die Stärken des Allradantriebs noch nie erlebt haben. Der quattro hilft ja nicht nur bei Eis und Schnee – die Vorteile fangen schon beim Abbiegen und Anfahren auf trockenem Asphalt an. Im Kundenbetrieb existieren also viele Situationen, in denen der quattro-Antrieb kurzzeitig Vorteile bietet, aber es gibt auch viele Fahranteile, in denen kein Unterschied zum Frontantrieb erkennbar ist. Daraufhin haben wir entschieden, ein völlig neues System mit zuschaltbarer Hinterachse zu realisieren, das die hohe Effizienz des Frontantriebs mit allen Vorteilen des permanenten Allradantriebs vereint.
Wijts: Unser Ziel war, dass keinerlei Unterschied zum permanenten quattro zu spüren ist. Wir haben 15 Rechenmodelle erstellt, die die Differenzen beschrieben haben, beispielsweise im Lenkgefühl. Wir wussten also genau, wann sich bei einem Fronttriebler bei zunehmender Last die Lenkung leichter anfühlt als bei einem quattro oder wann er beginnt, Spurrillen nachzulaufen. In all diesen Situationen schalten wir den Hinterachsantrieb vorübergehend zu. Immer geschieht dies vorausschauend, so dass der Allradantrieb bereits aktiv ist, wenn er gebraucht wird.
Wie schwierig waren Abstimmung und Erprobung des quattro mit ultra-Technologie?
Weidemann: Unser Vorteil war, dass die gesetzlichen Sicherheitsanforderungen bei der Erprobung niedrig waren – selbst bei einem Totalausfall des Systems wäre das Auto ja mit normalem Frontantrieb weitergefahren. Dadurch konnten wir die Straßenerprobung schon sehr früh beginnen, was dem Reifegrad sehr gut getan hat. Wir fahren oft eine große Runde um Ingolstadt, die auf 120 Kilometern durch öffentlichen Verkehr führt. Dort haben wir die Fortschritte bei den Softwareständen immer wieder gegengecheckt. Das ist sehr hilfreich und wichtig. Alles in allem konnten wir die verschiedensten Fahrsituationen zwischen Süditalien und dem Polarkreis im realen Kundenbetrieb herausfahren und unsere Betriebsstrategie so abstimmen, dass sich das Fahrverhalten nicht vom permanenten quattro unterscheidet.
Stichwort Betriebsstrategie und Software: Hier kommen Sie ins Spiel, Herr Baur und Herr Lehner.
Lehner: Unsere Abteilung betreut die mechatronischen und rein elektrischen quattro-Systeme. Wir entwickeln beispielsweise Software-Funktionen wie die Ansteuerung der Kupplung unter den wechselnden Bedingungen und Anforderungen. Wir sind bei allen geregelten Systemen dabei. In der mechanischen Welt sind das der quattro-Antrieb für den R8*, für die Fahrzeuge mit Längsmotor und quattro ultra sowie der quattro für die Autos auf dem Modularen Querbaukasten. Sie nutzen ja eine hydraulische Lamellenkupplung, und auch bei ihrer Steuerung hat die Effizienz großes Gewicht. Unter normalen, ruhigen Fahrbedingungen erfolgt der Antrieb größtenteils über die direkt angetriebene Achse, bei Bedarf werden die Antriebsmomente stufenlos auf alle vier Räder verteilt.
Baur: Und dann gibt es die e-tron-Modelle mit dem elektrischen Allradantrieb, der gar keine physischen Allrad-Bauteile mehr besitzt, also ganz ohne Mechanik und Hydraulik auskommt. Hier hat jede Achse einen oder sogar zwei Motoren, aus deren Zusammenspiel sich der elektrische quattro ergibt.
Wie läuft die Erprobungsarbeit bei Ihnen ab? Sie müssen doch eine Menge digitaler Stellschrauben zur Verfügung haben…
Lehner: Ja, die möglichen Paramater für die Software können in die Tausende gehen, je nachdem, wie fein man sie auflöst und miteinander kombiniert. Wir grenzen sie nach und nach auf eine überschaubare Menge ein, am Ende stehen dann etwa 100 bis 200 Eigenschaftsparameter. Mit ihnen stimmen wir beispielsweise die Traktion und die Fahrdynamik ab, und zwar jeweils individuell für die einzelnen Modellderivate. Die Erprobung machen wir ganz klassisch während der Fahrt – da sitzt ein_e Kolleg_in mit einem Laptop auf dem Beifahrersitz und spielt immer wieder veränderte Software-Stände ins System ein. Wir fahren Runde um Runde immer wieder dieselben Kurven, bis am Ende des ideale Ergebnis gefunden ist.
Erproben Sie mehr auf der Teststrecke oder auf der Straße?
Lehner: Zu Beginn des Projekts dürfen wir mit den Autos aus verschiedenen Gründen noch gar nicht auf die Straße und sind auf die Prüfgelände angewiesen. Der Vorteil dort ist, dass wir reproduzierbare Bedingungen vorfinden und beim Fahren ans Limit gehen können. Meistens läuft es so ab, dass wir nur eine Stunde lang fahren und danach fünf Stunden lang am Schreibtisch die Messdaten auswerten. In der zweiten Entwicklungsphase, wenn’s Richtung Serie geht, sitzen wir dann viel im Auto und fahren viele Kundensituationen ab. Das sind winterliche Straßen in Schweden, Alpenstraßen mit Verwerfungen und bröckelnder Decke, aber auch die Nordschleife, weil sie viele spezielle Herausforderungen auf engem Raum bietet, etwa Belagwechsel oder hängende Kurven. Der krasse Gegensatz dazu sind die Parkhäuser – auch dort fahren wir, weil der Reibwert auf Beton sehr niedrig ist und die Kehren sehr eng sind.
Je komplexer das Allradsystem, desto aufwändiger Entwicklung und Erprobung. Stimmt das, Herr Baur?
Baur: Ja, mit der Komplexität steigt die Zahl der Funktionen und Parameter. Beim e-tron* wird die Koppelung zwischen Vorder- und Hinterachse rein in der Software abgebildet, dabei entstehen zehntausende Zeilen Code und zig Parameter. Die große Herausforderung liegt in der Abstimmung der beteiligten Systeme – vor allem im S-Modell* mit seinen drei E-Maschinen. Hier haben wir eng mit den Kolleg_innen zusammengearbeitet, die das Antriebssteuergerät und die Steuergeräte für Leistungselektronik und Bremsregelsystem entwickelt haben. Wir müssen eine Vielzahl von Funktionen entwickeln und dabei immer die vielfältigen Rückwirkungen auf andere Systeme berücksichtigen. Das Auto soll in ja jeder Situation ein vorhersehbares und reproduzierbares Verhalten an den Tag legen, da verfolgen wir genau das gleiche Ziel wie die Kolleg_innen.
Wie laufen bei Ihnen die Erprobungen ab?
Baur: Wenn wir auf ein Prüfgelände gehen, sind oft um die 20 bis 30 Kolleg_innen dabei, die sich eng miteinander austauschen. Sie kommen aus der Antriebs- und Fahrwerksentwicklung und dort aus verschiedenen Fachabteilungen. Wir sitzen alle an einem Tisch und, wenn es ans Testen kommt, alle in einem Auto – im übertragenen Sinn.
Weidemann: Was mich am quattro-Antrieb immer wieder fasziniert, ist seine Vielfalt. Ich verantworte bei den Modellen mit längs eingebautem Frontmotor alle Komponenten, die Drehmomente zwischen den Achsen verteilen – und das ist nur ein Teil des gesamten Spektrums. Aber ganz unabhängig davon, wie der quattro-Antrieb technisch umgesetzt ist, steht er immer für hohe Sicherheit, starke Traktion und hohe Fahrdynamik. Das sind nun mal unsere großen Stärken, hier besitzen wir bei Audi eine Erfahrung, die wir uns über Generationen von quattro-Modellen erarbeitet haben. Wir wollen gemeinsam alle Potenziale heben, damit wir unseren Kund_innen maximalen Nutzen bieten und sie für Audi begeistern.