Marc Lichte im Interview: „Sportliche Autos sind Form gewordenes Adrenalin“
- Audi-Chefdesigner blickt auf 40 Jahre Audi Sport GmbH
- Performance, Ästhetik und Funktionalität werden die RS-Modelle der Zukunft prägen
- Radikal veränderte Innenräume auch bei kommenden High-Performance-Fahrzeugen
Audi RS-Modelle begeistern Fans der Vier Ringe dank ihres technischen und gestalterischen Vorsprungs. Audi-Designchef Marc Lichte erinnert zum 40. Geburtstag der Audi Sport GmbH an Innovationen, die zur Tradition wurden – und immer weiter inspirieren.
Marc, die Audi Sport GmbH besteht nun seit 40 Jahren und begeistert mit RS-Modellen die Fans. Welche ihrer Modelle faszinieren dich besonders?
Marc Lichte: Als Designer und als Performance-Fan bin ich ein Riesenfan von unseren RS-Modellen. Eines meiner Highlights war immer der TT RS. Weil dieser, wie das TT-Grundmodell aus der Serie, die Ideen des Bauhaus zum ersten Mal auf die Straße gebracht hat. „Weniger ist mehr“ gilt hier zwar für die Designsprache, aber nicht für die puren Emotionen und den Fahrspaß – dafür hat auch der Fünfzylinder mit seinem besonderen Sound gesorgt. Auch die Arbeit am aktuellen Audi RS 6 Avant mit meinem Team war unvergesslich. Wir haben damals kompromisslos die quattro-Herkunft bis ins letzte Detail und in jede Linie herausgearbeitet. Wenn ich heute einen RS 6 auf der Straße sehe, freue ich mich jedes Mal, wie konsequent wir damals waren.
Eine Gemeinsamkeit aller RS-Modelle?
Lichte: Das wirklich Besondere ist für mich, dass man in jedem aktuellen und – das kann ich versprechen – auch bei jedem künftigen RS-Modell die Form von Audi-Legenden wie dem Ur-quattro oder dem Sport quattro wiederfindet: die Muskeln, die Blister, die extra breiten Radläufe. Das RS-Design ist so tief in der Audi DNA verankert, dass wir es immer wieder neu erfinden können, ohne dabei dessen Essenz zu verwässern.
Die Gene für den Erfolg von Audi Sport stammen aus dem Rennsport: die Sportlichkeit, die fortschrittliche Technik und das emotionale Design. Woher kommt deine Passion für performante Fahrzeuge?
Lichte: Wie eng Autos mit Leidenschaft zusammenhängen, habe ich früh von meinem Vater gelernt. Er startete in den 70er Jahren jedes zweite Wochenende bei Bergrennen. Vor den Renn-Wochenenden war im ganzen Haus immer diese ganz spezielle Aufregung zu spüren, als würde es jeden Moment an der Startlinie losgehen. Seit damals sind für mich sportliche Autos pure Vorfreude, in Form gegebenes, Form gewordenes Adrenalin.
Stimmt es eigentlich, dass der Audi Sport quattro tatsächlich der Auslöser für deinen Berufswunsch war, Automobil-Designer bei Audi zu werden?
Lichte: Ja, das stimmt. 1983 ist der Audi Sport quattro von Audi auf der IAA herausgestochen wie kein anderes Auto. Es war überhaupt ganz anders als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Dieses Auto hatte unglaublich viel Charakter – mit seinem Breitbau, mit seinen Blistern. Wahnsinn, diese Konsequenz! Die Idee, automobile Sportlichkeit so darzustellen, Technologie durch Gestaltung für alle derart sichtbar zu machen. Und damit für jeden sofort zugänglich. Diese Vorstellung hat mich so inspiriert, dass ich noch mitten auf dem Messestand entschied: Ich möchte später Designer bei den Vier Ringen werden! Das war auch vor genau vierzig Jahren. Für mich ist es ein doppelter Erfolg, dass mich in meiner Arbeit bis heute die Gestaltungselemente dieser Ikone begleiten – die charakterstarke C-Säule, die markanten Lufteinlässe, einfach die gesamte Progressivität dieses Audi.
Eine erfolgreiche Geschichte ist, wenn Innovation zu Tradition wird?
Lichte: Genau! Heute stehen vor mir auf meinem Schreibtisch der Sport quattro und der RS e-tron GT genau nebeneinander. Der RS e-tron GT hat viele Elemente, die mein Team und ich bei der Gestaltung vom Sport quattro adaptiert haben. Dieser elektrische Gran Turismo schlägt eine starke Brücke in die Audi-Geschichte und ist für mich in seiner Ikonografie der Audi Sport quattro, wie ich ihn vor vierzig Jahren das erste Mal sah – übertragen in ein neues, elektrisches Zeitalter. So ist Tradition wiederum ein wichtiger Impulsgeber für die Zukunft.
Mit dem Blick in genau diese Zukunft: Welche Art Design wünschen sich die Kunden von der Audi Sport GmbH für die von ihr entwickelten neuen Fahrzeuge von morgen und übermorgen?
Lichte: Wir bauen zukünftig im Schwerpunkt mit zwei Plattformen – mit der Plattform PPE (Premium Platform Electric) für Elektrofahrzeuge und mit der Plattform PPC (Premium Platform Combustion) für Fahrzeuge mit konventionellem Antrieb. Aufbauend darauf haben wir genau überlegt, wie wir unsere RS-Modelle in Zukunft weiterentwickeln. Dabei fragten wir uns vor allem: Wie können wir die von unseren Kunden bisher gewünschten und geschätzten RS-Gene vom Verbrenner ins Elektrozeitalter transportieren und damit mindestens genauso viel – oder ganz neue – Begeisterung wecken?
Die Antwort?
Lichte: Performance wird auch in Zukunft von RS-Modellen gewünscht, allerdings immer in Verbindung mit Funktionalität. Dieses Feedback bekommen wir auch von unseren Kunden und Fans in Studien zurück. Und das kann ich total nachvollziehen, das ist nämlich auch ein Credo guten Designs. Eine schöne Form braucht Funktionalität, sonst taugt das Ganze nichts. Am allerwichtigsten für unsere Kundschaft ist und bleibt jedoch die breite Spur. Also die muskulöse Optik, die die RS-Modelle von ihren jeweiligen Grundmodellen deutlich unterscheidet. In Zukunft wird die Differenzierung zur jeweiligen Basis noch größer werden. Darauf haben wir bei der Entwicklung neben einer gesteigerten Performance am meisten Wert gelegt.
Sind diese optischen Differenzierungen auch die Taktgeber für das von dir propagierte und realisierte zeitlose Design?
Lichte: Zeitloses Design ist für mich immer Basis und höchstes Ziel. Da kommt wieder der TT RS ins Spiel, der genau das verkörpert. Die radikale Reduktion hat dieses Auto in den letzten Jahrzehnten zur Ikone werden lassen. Wenn jede Linie einen Zweck hat, hast du als Designer deinen Job gemacht. Gerade unsere sportlichsten Audi müssen parallel zu ihrer Progressivität und Modernität etwas Zeitloses ausstrahlen – denn dadurch schaffen wir Langlebigkeit und Universalität. Ich habe den Anspruch, dass ein RS-Modell rein ästhetisch zu jeder Lebenssituation und in jede Umgebung passen muss.
Wie überwindet man denn diesen scheinbaren Widerspruch zwischen modern wirkendem Design und einer Gestaltung, die auch nach langer Zeit klassisch schön bleibt?
Lichte: Das ist so ziemlich die größte Herausforderung, der man sich als Designer stellen muss, übrigens egal in welcher Branche. Für das Design von RS-Modellen erreicht man das zum einen durch die passende und damit tolle Proportionen schaffende Verbindung aus breiter Spur und großen Rädern. Plus die Art, wie die Flächen der Karosserie gestaltet werden: ohne Gimmicks, jede Linie mit einer definierten Funktion. In diesem Punkt werden die zukünftigen RS-Modellgenerationen noch mal reduzierter.
In Zukunft spielt die für mehr Reichweite weiter optimierte Aerodynamik von elektrifizierten RS-Modellen eine ganz entscheidende Rolle. Wie sehr verändert das den Designprozess?
Lichte: Die Antwort ist der Designprozess des Audi RS e-tron GT. Dieses Auto haben wir im wahrsten Sinne des Wortes im Windkanal geformt. Beim Designprozess dafür habe ich vier 2D-Entwürfe ausgesucht und meinem Team gesagt: Geht damit in den Windkanal, und die Variante mit dem besten cw-Wert setzen wir in Serie um. Genauso haben wir es dann gemacht. Denn beim performanten Elektroauto ist die Reichweite das Entscheidende für unsere Kundinnen und Kunden. Du könntest auch seine Batterie größer machen – und damit das Auto schwerer. Das ist aber schlecht für seine Performance. Effizientere Aerodynamik für mehr Reichweite ist also die Lösung. Dafür feilen wir mit unseren Aerodynamikern, bis es nichts mehr zum Verbessern gibt. Pure Akribie für pure Funktionalität.
Die neue Design-Philosophie bei Audi lautet: Fahrzeuge von innen nach außen gestalten anstatt – wie seit rund 130 Jahren im Automobilbau üblich – von außen nach innen. Inwieweit trifft das auch auf die zukünftigen Modelle der Audi Sport GmbH zu?
Lichte: Bevor wir die erste Skizze anfertigen, fragen wir uns: Was wollen unsere Kunden mit und im Fahrzeug erleben? Dass wir das Interieur als Herzstück begreifen, formt einen ganz neuen Prozess, und dieser gilt natürlich eins zu eins auch für unsere RS-Modelle. Wir arbeiten bereits ganz konkret am neuen RS-Interieur, und ich kann verraten, dass das radikal anders ist als das, was man heute von einem RS-Modell mit Verbrennungsmotor kennt. Also, wie der Fahrer sitzen wird, wie die Sitze aussehen werden und wie das gesamte Ambiente wirkt. Es kommt eine neue, aber nach wie vor sehr, sehr unique RS-Welt im Interieur. Übrigens: Wir haben dieses RS-Interieur gestaltet, noch bevor es überhaupt ein Interieur-Konzept für das Basisfahrzeug dieses zukünftigen Modells gab.
Nachhaltigkeit spielt im Interieur sicher auch vermehrt eine Rolle?
Lichte: Für mich ergibt sich Nachhaltigkeit vor allem aus Reduktion. Der Innenraum wird künftig noch deutlich reduzierter, die verwendeten, teilweise recycelten Materialien und deren Gestaltung schaffen eine maximal wertige Anmutung und warme Atmosphäre. Kurz gesagt: Wir denken den Raum nochmal völlig neu.
Eine persönliche Frage an dich als leidenschaftlichen Segler: Lassen sich zukünftig mehr Designkonzepte von Hochleistungssegelbooten auf Hochleistungsautomobile übertragen?
Lichte: Ich segle Performance-Boote mit Carbon-Mast, Carbon-Ruder, Carbon-Segel, da ist definitiv ein Muster erkennbar (lacht). Carbon ist auch ein bedeutsames Thema bei unseren RS-Modellen, bezüglich Leichtbau des Exterieurs und Materialverwendung fürs Interieur. Beim Segeln generiere ich Ideen, die ich dann bestmöglich in neue Designs für Audi übersetze. Auf dem Wasser ist die Philosophie des Reisens eine andere: Egal wie schön mein Reiseziel ist, der Fokus liegt auf dem Weg selbst. Wie kann ich das auf die Straße übertragen? Für mich muss ein Auto optisch so ansprechend sein und beim Fahren so begeistern, dass das Ankommen fast zweitrangig wird. Diesem Gefühl will ich für unsere Kunden eine Gestalt geben.